1. Ab welchem GdB gilt jemand als schwerbehindert?
Nach § 2 Abs. 1 SGB IX sind Behinderungen körperliche oder geistige Sinnesbeeinträchtigungen, die den Betroffenen länger als 6 Monate an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern.
Aber nicht alle Menschen mit Behinderungen können sich auf den besonderen Kündigungsschutz aus dem SGB IX berufen, denn dieser gilt nur für schwerbehinderte Menschen.
Ausschlaggebend ist der Grad der Behinderung (GdB), der durch ein ärztliches Gutachten bemessen wird. Ab einem GdB von 50 gilt der Arbeitnehmer als schwerbehindert und genießt somit besonderen Kündigungsschutz.
Ein GdB von 50 oder mehr kann zB in diesen Fällen vorliegen:
- Verlust eines Armes oder Beins
- Chronischen Erkrankungen
- Krebserkrankungen
- Schwerer Migräne
- Hirnschäden oder psychischen Störungen
- Diabetes
- Herz-Erkrankungen
2. Muss ich die Schwerbehinderung melden?
Viele Arbeitnehmer sind sich unsicher, wie offen Sie mit ihrer Schwerbehinderung umgehen sollten. Folgendes müssen Sie wissen:
- Keine Offenbarungspflicht: Grundsätzlich besteht keine Verpflichtung, Ihren Arbeitgeber über die Behinderung zu informieren. Sie können sogar lügen, wenn Sie beim Bewerbungsgespräch danach gefragt werden. Das gilt jedoch nicht, wenn Sie wissen, dass Sie die Arbeit aufgrund der Behinderung nicht erbringen können.
Achtung: Gesetzliche Vorteile – wie z.B. den Zusatzurlaub von fünf Arbeitstagen pro Jahr – können Sie selbstverständlich nur geltend machen, wenn Ihr Arbeitnehmer von den Umständen weiß.
- Offenbarung nach Kündigung: Spätestens drei Wochen nach der Kündigung muss dem Arbeitgeber die Behinderung offengelegt werden. Ansonsten gilt kein besonderer Kündigungsschutz.
- Amtliche Anerkennung: Damit Sie von den besonderen Schutzvorschriften profitieren, muss Ihre Schwerbehinderung amtlich festgestellt sein. Spätestens drei Wochen vor der Kündigung müssen Sie einen Antrag auf Feststellung der Schwerbehinderung eingereicht haben.
3. Wie können Schwerbehinderte gekündigt werden?
Die Voraussetzungen liegen deutlich höher als bei anderen Arbeitnehmern. Arbeitgeber, die einen Arbeitnehmer mit Schwerbehinderung kündigen wollen, müssen neben den allgemeinen Vorschriften des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) auch den Sonderkündigungsschutz aus dem neunten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB IX) beachten. Daraus ergeben sich insbesondere diese Voraussetzungen für eine rechtmäßige Kündigung:
Zustimmung des Integrationsamtes
Laut § 167 Abs. 1 SGB IX können Schwerbehinderte nur mit vorheriger Zustimmung des Integrationsamtes gekündigt werden. Ansonsten ist die Kündigung rechtswidrig.
Das Amt wiegt die Interessen des Arbeitgebers und des Arbeitnehmers gegeneinander ab und entscheidet nach eigenem Ermessen. Je mehr die Kündigung mit der Schwerbehinderung des Arbeitnehmers zusammenhängt, desto strenger prüft das Integrationsamt die Notwendigkeit.
Zulässige Kündigungsgründe
Der allgemeine Kündigungsschutz schreibt in § 1 KSchG vor, dass Arbeitgeber einen personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Kündigungsgrund haben müssen, um Arbeitnehmer zu entlassen. Das gilt auch bei der Kündigung von Schwerbehinderten.
Betriebsbedingte Kündigung
Dies ist der häufigste Kündigungsgrund. Dafür müssen Arbeitgeber darlegen können, dass dringende betriebliche Erfordernisse eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers unmöglich machen. Betriebliche Erfordernisse sind z.B. eine Umstrukturierung des Betriebs oder das Einstellen von unprofitablen Betriebszweigen.
Vorteile bei der Sozialauswahl:
Das Kündigungsschutzgesetz stellt hohe Hürden für betriebsbedingte Kündigungen auf. Insbesondere dürfen Arbeitgeber nicht frei auswählen, wen sie kündigen. Bei vergleichbaren Stellen müssen vorrangig jene Mitarbeiter gekündigt werden, die die Kündigung am besten verkraften können. Menschen mit Schwerbehinderung sind dabei besonders schutzwürdig.
Ob eine ordnungsgemäße Sozialauswahl erfolgt ist, prüft das Integrationsamt allerdings nicht. Bei Zweifeln sollten Sie sich an einen Fachanwalt für Arbeitsrecht wenden. Möglicherweise kann die Kündigung vor Gericht angegriffen werden.
Verhaltensbedingte Kündigung
Wenn Arbeitnehmer gegen arbeitsvertragliche Pflichten verstoßen, können sie verhaltensbedingt gekündigt werden. Wenn die Pflichtverstöße jedoch aufgrund der Behinderung vorkommen, kann nur wegen besonders schweren Fehlverhaltens gekündigt werden.
Personenbedingte Kündigung
Mangelnde Arbeitsleistungen aufgrund persönlicher Eigenschaften können ebenfalls zu einer ordentlichen Kündigung führen. Auch eine Behinderung kann eine solche persönliche Eigenschaft sein. Das Integrationsamt wird hier besonders streng prüfen, ob auch andere Mittel möglich gewesen wären und ob dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung wirklich unzumutbar ist. Insbesondere muss der Arbeitgeber vorerst ein betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) durchführen.
Anhörung von Betriebsrat und Schwerbehindertenvertretung
Auch die Anhörung des Betriebsrats zu jeder einzelnen Kündigung gehört zum allgemeinen Kündigungsschutz. Wird diese Vorschrift nicht eingehalten, ist die Kündigung vor Gericht angreifbar.
Vor einer Kündigung von Schwerbehinderten muss nach § 95 Abs. 2 SGB IX zusätzlich die Schwerbehindertenvertretung angehört werden.
4. Welche Kündigungsfrist gilt?
Bei schwerbehinderten Arbeitnehmern gilt eine Mindestkündigungsfristfrist von vier Wochen. Arbeits- und Tarifvertrag können (außerhalb der Probezeit) keine kürzere Kündigungsfrist vorsehen.
Wenn keine vertraglichen Kündigungsfristen vereinbart sind, gelten die gesetzlichen Kündigungsfristen aus § 622 BGB. Diese richten sich nach der Dauer der Betriebszugehörigkeit des Arbeitnehmers. Je länger der Arbeitnehmer schon im Betrieb beschäftigt ist, desto länger ist auch die Kündigungsfrist.
5. Ausnahmen beim Kündigungsschutz? Probezeit, Kleinbetriebe etc.
Sowohl in den ersten 6 Monaten des Arbeitsverhältnisses (üblicherweise die Probezeit) als auch in Kleinbetrieben mit 10 oder weniger Mitarbeitern gelten einige Ausnahmen beim Kündigungsschutz.
Kein allgemeiner Kündigungsschutz
Arbeitnehmer in der Probezeit und in Kleinbetrieben genießen keinen allgemeinen Kündigungsschutz nach dem KSchG. Das bedeutet aber nicht, dass Sie in diesen Fällen schutzlos sind. Eine Kündigung ist insbesondere rechtswidrig, wenn:
- Sie gegen die guten Sitten oder das Maßregelungsverbot aus § 612a BGB verstößt.
- Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) missachtet wird.
- Der Betriebsrat nicht angehört wird.
Sonderkündigungsschutz gilt auch in Kleinbetrieben
Die Größe des Betriebs ändert nichts an der Schutzwürdigkeit von Schwerbehinderten. Aus diesem Grund bleibt der Sonderkündigungsschutz in Kleinbetrieben bestehen. Die Integrationsbehörde muss hier also weiterhin der Kündigung von Schwerbehinderten zustimmen.
Das gilt aber nicht für die Probezeit, denn während dieser Zeit findet keine Kontrolle durch das Integrationsamt statt. Trotzdem sollte auch in der Probezeit kein enger Zusammenhang zwischen der Kündigung und der Behinderung des Arbeitnehmers bestehen. Ansonsten könnte die Kündigung gegen das AGG verstoßen und deshalb rechtswidrig sein.
Weitere Ausnahmen
- Eigenkündigungen des Arbeitnehmers oder Aufhebungsverträge sind nicht von dem besonderen Kündigungsschutz des SGB IX erfasst.
- Dasselbe gilt, wenn ein Sozialplan Abfindungen vorsieht, und die betroffene Person über 58 Jahre alt ist.
- Auch in karitativen Behindertenwerkstätten gilt kein besonderer Kündigungsschutz.
6. Besteht eine Chance auf eine Abfindung?
Arbeitnehmer haben in Deutschland keinen gesetzlichen Anspruch auf eine Abfindung. Das gilt auch für Schwerbehinderte.
Durch Zahlung einer Abfindung ersparen sich Arbeitgeber aber lange und kostenintensive gerichtliche Auseinandersetzungen. Sie sind deshalb häufig zu Zugeständnissen bereit.
Wege zu einer Abfindung
- Aufhebungsvertrag: Anstelle einer Kündigung können Arbeitgeber und Arbeitnehmer einen Aufhebungsvertrag schließen. Meist wird dabei eine Abfindung vereinbart.
- Betriebsbedingte Kündigung mit Abfindungsangebot: Viele Arbeitnehmer bieten schon im Kündigungsschreiben eine Abfindung nach § 1a KSchG an. So stellen sie sicher, dass nicht gegen die Kündigung geklagt wird. Wenn mehrere Arbeitnehmer entlassen werden, gibt es häufig einen Sozialplan, der die Abfindungen festlegt.
- Abfindung per Abwicklungsvertrag: Wenn keine Abfindung mit der Kündigung angeboten wird, kann ein Abwicklungsvertrag ausgehandelt werden. Sie verzichten dann auf eine Klage und erhalten im Gegenzug eine Abfindung.
- Abfindung nach gewonnenem Gerichtsprozess: Bestehen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Kündigung, können Sie eine Kündigungsschutzklage erheben. Gewinnen Sie den Prozess, ist die Kündigung unwirksam. Da die Rückkehr in den Betrieb nach einem Rechtsstreit meist unzumutbar ist, vereinbaren Arbeitnehmer und Arbeitgeber häufig eine Einigung samt Abfindung.
Achtung Frist: Hier müssen Sie zügig handeln. Die Klage muss innerhalb von drei Wochen beim Arbeitsgericht erhoben werden. Die Frist beginnt, sobald Ihnen die Kündigung zugegangen ist und das Integrationsamt seine Entscheidung zur Kündigung bekanntgegeben hat.
- Widerspruch gegen den Zustimmungsbescheid des Integrationsamts: Neben der Klage kann der Arbeitnehmer auch Widerspruch gegen den Zustimmungsbescheid des Integrationsamts einlegen. Durch einen erfolgreichen Widerspruch wird die Kündigung rückwirkend unwirksam. Auch hier könnte dann ein Aufhebungsvertrag mit einer Abfindung geschlossen werden.
Höhere Abfindung für Schwerbehinderte?
Die Höhe der Abfindung ist Verhandlungssache. Je höher das Prozessrisiko für den Arbeitgeber, desto höhere Abfindungen können verlangt werden. Durch den Sonderkündigungsschutz ist die Kündigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers leicht gerichtlich angreifbar. Sie haben deshalb eine stärkere Verhandlungsposition als andere Arbeitnehmer.
Haben Sie also keine Scheu, mit Ihrem Arbeitgeber über die Höhe der Abfindung zu verhandeln. Besonders als Schwerbehinderter haben Sie gute Chancen.
Kein Verhandeln ohne Anwalt
Um sich keine Chancen zu verspielen, sollten Sie die Verhandlungen unbedingt mit Hilfe eines Anwalts führen. Dieser kann besser einschätzen, wie aussichtsreich eine Klage ist und welche Taktik angewandt werden sollte.
7. Fazit
- Neben dem allgemeinen Kündigungsschutz nach dem KSchG profitieren Schwerbehinderte von einem Sonderkündigungsschutz nach dem SGB IX. Dafür muss die Schwerbehinderung amtlich festgestellt und dem Arbeitgeber spätestens drei Wochen nach der Kündigung mitgeteilt werden.
- Schwerbehinderte können erst gekündigt werden, wenn zuvor die Zustimmung des Integrationsamts eingeholt und die Schwerbehindertenvertretung konsultiert wurde.
- Je mehr die Kündigung mit der Schwerbehinderung des Arbeitnehmers zusammenhängt, desto strenger prüft das Integrationsamt die Notwendigkeit.
- Es gilt eine Kündigungsfrist von mindestens 4 Wochen.
- Der Sonderkündigungsschutz für Schwerbehinderte gilt auch in Kleinbetrieben, nicht aber während der Probezeit.
- Schwerbehinderte haben eine starke Verhandlungsposition für eine Abfindung.